Beschreibung
Dieter Hildebrandt frei und unformatiert Es gab, so der Autor, ein Leben vor dem Fernsehen, es gibt eins nach ihm. Das nach ihm ist freier und fröhlicher, denn es ist nicht formatiert. Vor der feindlichen Übernahme des menschlichen Tagesablaufs durch das Fernsehen haben wir das Wort Format mehr von der Qualität bestimmt verstanden. Nach dem Ausscheiden aus dem Fernsehgeschäft braucht Dieter Hildebrandt sich nur noch um sein eigenes Format zu kümmern, das Format als Buchautor, was er auf seinen Lesungen in den vorangegangenen Jahren mit großem Erfolg getan hat. Aufgetreten ist er in schmucklosen Sälen, ohne Bühnenbild, ohne Kostüm und ohne Rhythmusgruppe, nur er und sein Buch, aber er wusste, dass auch im freudlosesten Saal ein Publikum von Format saß. Jedes Publikum ist anders. In jeder deutschen Landschaft gibt es andere Voraussetzungen für das Lachen. Einige Vorurteile bestätigen sich alljährlich. Mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel ist die Bahn. Sie ist furchtbar. Selbst nachdem Biolek und Witzigmann die PR für die Esskultur in den Speisewagen übernommen haben. Hildebrandt hat viele Strapazen auf sich genommen, um seine Auftrittsorte rechtzeitig zu erreichen. Ist er mit dem Auto unterwegs, dräut ein Stau, wählt er die Bahn, ist die Ankunft wo auch immer ein Glücksfall. Und dass Fliegen schöner sei, ist eine glatte Lüge. Und doch ist er mit seiner ICH-AG zufrieden. Schließlich ist er überall ausgebucht. Dieter Hildebrandt war in den vergangenen Jahren ein eifriger Vorleser seiner Texte. Bei Lesereisen lernte er seine Heimat Deutschland so richtig kennen, und er war fasziniert von den fulminanten Angeboten der Hotellerie, dem begeisternden Service der Bahn AG wie der Lufthansa, von kulinarischen Angeboten in allen deutschen Gauen; und wenn er im Hotelzimmer mal den Fernseher anschaltete, verging ihm auch da der Appetit. Seine Erlebnisse auf diesen Fahrten hat er aufgeschrieben, und seine Schilderungen hat er gespickt mit satirischen Aperçus und politischen Betrachtungen über den Tag hinaus. Sie zeigen den großen Kabarettisten erneut als kritischen und witzigen Erzähler.
Autorenportrait
Dieter Hildebrandt, geboren 1927 in Bunzlau, Niederschlesien, studierte in München Theaterwissenschaften. Zusammen mit Sammy Drechsel gründete er die Münchner Lach- und Schießgesellschaft, deren Ensemble er bis 1972 angehörte. Von 1974 bis 1982 arbeitete er mit dem Kabarettisten Werner Schneyder zusammen. Seine TV-Serien "Notizen aus der Provinz" und "Scheibenwischer" wurden große Erfolge. Berühmtheit erlangte er auch durch seine Rollen in Kinoproduktionen wie "Kir Royal" und "Kehraus". Hildebrandt erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Grimme-Preis in Gold, Silber und Bronze. Viele erfolgreiche Bücher, darunter als letztes "Nie wieder achtzig!" (2007 bei Blessing). Bis zu seinem Tod im November 2013 lebte Dieter Hildebrandt mit seiner zweiten Frau, der Kabarettistin Renate Küster, in München.
Leseprobe
M?CHEN, HAUPTBAHNHOF, 9.43 UHR Zehn Minuten zu fr?h. Das liegt an meiner Frau Renate. Sie wird Stunden vor der Abreise schon unruhig. Wenn wir gemeinsam reisen, kommt regelm?g eine gereizte Stimmung auf. Nicht deswegen, weil ich irgendetwas Unpassendes sage, nein, meine Ruhe macht sie w?tend. Heute reise ich allein. Sie schaut auf die Uhr. ?Du musst los.? ?Ich brauche nur f?nf Minuten.? Es entsteht eine Pause, und ich wei?sofort, dass ich f?r diesen Morgen ihre Toleranz verbraucht habe. Auf solche und ?liche Weise entsteht selten ein ?bertriebener Abschiedsschmerz. Sie sagt nichts mehr. Und weil mich irgendwas reitet, sage ich: ?Ich habe bei Robert Neumann gerade einen sch?nen j?dischen Witz gelesen.? ?Ich trau mich nicht nach Hause?, sagt der eine. ?Warum nicht??, fragt der andere. ?Wegen meiner Frau?, sagt der eine. ?Was macht sie denn??, fragt wieder der andere. ?Noja, sie redt und redt und redt.? ?Was redt sie denn?? ?Das sagt sie nicht.? Die SBahn habe ich nat?rlich verpasst, habe ein Taxi genommen. Der Fahrer war ein etwas ?erer Herr, der sehr gem?lich fuhr. Ich kaufte mal ein Auto, das als sensationelle Neuerung eine Wegfahrsperre eingebaut hatte. Sie funktionierte so gut, dass ich, wenn ich am n?sten Morgen wegfahren wollte, am Abend vorher starten musste. Dieser Taxifahrer war die personifizierte Wegfahrsperre. Zun?st einmal starrte er mich an. Das dauerte und dauerte, und ich dr?te: ?Bitte fahren Sie los, ich verpasse den Zug.? Er lie?sich in keiner Weise beirren, hob langsam den Zeigefinger und sagte triumphierend: ?Eahna kenn i.? ?Das mag sein, aber bitte fahren Sie jetzt?, flehte ich ihn f?rmlich an. ?Momeent?, sagte er dann, ?k?nnen S? mir a Autogramm geben?? Aber er lie?sich ?berreden und bewegte sein Auto sehr langsam vorw?s. Es war nicht mehr zu schaffen. Als ich am Bahnhof sehr hastig ausstieg, rief er mir noch nach: ?Sie san der Hildenbrand, gell?? In diesem Jahr bin ich unter vielen verschiedenen Namen aufgetreten: Hillenbrand, Hillebrand, doch das sch?nste Missverst?nis geschah auf der Insel R?gen. Im dortigen Kulturheft erschien ich mit dem Namen Dieter Hildegard. Auf Bahnsteig 14 stand der ICE nach Hamburg. F?nf Minuten sp?r fuhr er los. Ich hatte es geschafft. Um ein Haar aber nicht! Renate w?rde vor Schadenfreude gl?hen, wenn sie es w?sste. Sofort taucht die Frage auf: ?Warum hat der Zug schon Versp?ng, bevor er ?berhaupt losgefahren ist?? Das ist zutiefst undankbar, ich wei? denn diese Versp?ng hat mir wahrscheinlich die Vorstellung am Abend in Erfurt gerettet. In Fulda umsteigen. Daf?r sind noch sechs Minuten Zeit, um den anderen Bahnsteig zu erreichen. Es wird knapp, aber noch ist es m?glich. Nach f?nf Minuten halten wir in M?nchen-Pasing. Nach zehn Minuten stehen wir immer noch da. 25 Minuten sp?r meldet sich der Zugsprecher mit der Mitteilung, dass sich die Weiterfahrt noch ein wenig verz?gern k?nnte. Wir hatten also nach einer Fahrt ?ber f?nf Kilometer, von M?nchen nach M?nchen-Pasing, 40 Minuten Versp?ng. Sp?r wurden wir dann umgeleitet ?ber vorher noch nie gesehene Nebenstrecken, die eingleisig waren. Viele kleine beschauliche D?rfer waren zu sehen, unbeschrankte Bahn?berg?e mit winkenden Bahnvorstehern, aber keinen Zust?igen, der uns informiert h?e, wie es denn nun weitergeht. Sp?r meldete sich der Sprecher mit der Mitteilung, dass wegen eines Stellwerkschadens in Lochham ? das interessierte keinen Menschen mehr, die Anschlussz?ge waren weg. Um mich zu beruhigen bl?erte ich in der Bahnillustrierten Mobil und war fasziniert von dem pr?tigen Titelbild, aus dem heraus zwei strahlende Meisterk?che versprachen, sich um die gef?rchtete Esskultur in den Speisewagen der Bahn zu k?mmern. Man vermutet, dass sich das Niveau um mindestens 20 Prozent erh?hen wird. Das hei?, von den verkohlten sechs N?rnberger Rostbratw?rsten wird man zwei halbwegs genie?n k?nnen. ?er die Bordsprechanlage meldet sich ein sehr schlechter Sprecher. Er br?llt in das M Leseprobe