Beschreibung
Im zweiten Band von »Otherland«, Fluß aus blauem Feuer, ist es einer kleinen Gruppe Verzweifelter gelungen, tatsächlich in Otherland einzudringen. Und da schnappt die Falle zu. Sie sind gefangen, unfähig, wieder in ihre Körper aus Fleisch und Blut in der realen Welt zurückzukehren. Zufälle und gefährliche Abenteuer zersprengen die Gruppe. Ihre einzige Hoffnung ist der Fluß. Der Fluß aus blauem Feuer, der durch alle virtuellen Welten Otherlands fließt.Im November 2004 hat Tad Williams für »Otherland« den Corine-Future Preis erhalten.
Autorenportrait
Tad Williams, geboren 1957 in Kalifornien, ist Bestseller-Autor und für seine epischen Fantasy- und Science-Fiction-Reihen, darunter Otherland, Shadowmarch, und Das Geheimnis der Großen Schwerter bekannt. Seine Bücher, die Genres erschaffen und bisherige Genre-Grenzen gesprengt haben, wurden weltweit mehrere zehn Millionen Male verkauft.
Leseprobe
Es war seltsam, aber was Jeremiah Dako weckte, war die Stille. Seltsam daran war, daß man hätte meinen sollen, als einen von zwei Leuten in einem riesigen stillgelegten Militärstützpunkt würde ihn alles aufschrecken lassen, bloß nicht die Stille. Mit Long Joseph als einziger Gesellschaft im »Wespennest« zu leben, war die meiste Zeit über so, als ob er der letzte Bewohner eines der Geistertownships im südlichen Transvaal wäre, wo die Tokozaseuche die Shantytowns so rasch leergefegt hatte, daß viele der Fliehenden sogar ihre wenigen kümmerlichen Habseligkeiten zurückgelassen hatten - Kochtöpfe, Pappkoffer, fadenscheinige, aber noch tragbare Kleidungsstücke. Als ob ihre Besitzer durch irgendeinen grauenhaften Zauber auf einen Schlag weggehext worden wären. Doch selbst in den verlassenen Arbeitersiedlungen in Transvaal gab es Wind und Regen und herumstreunende wilde Tiere. Noch immer konnte man Vogelsang durch die staubigen Straßen hallen oder Ratten und Mäuse in den Abfallhaufen wühlen hören. Das Wespennest jedoch war ein Monument der Stille. Durch unzählige Tonnen Stein von den Elementen abgeschirmt, die technischen Anlagen weitgehend außer Betrieb, die massiven Türen so fest verschlossen, daß nicht einmal Insekten hineinschlüpfen konnten, und die Luftschächte so fein vergittert, daß kein sichtbarer lebender Organismus eindringen konnte - so hätte der Stützpunkt ein Ort aus einem Märchen sein können, das Dornröschenschloß vielleicht, wo die Prinzessin und alle ihre Verwandten überzogen vom Staub der Jahrhunderte schliefen. Jeremiah Dako war kein sonderlich phantasiebegabter Mann, aber wenn sein Gefährte Joseph Sulaweyo endlich in einen unruhigen Schlaf gesunken war - einen Schlaf, der von seinen ganz persönlichen bösen Feen heimgesucht zu sein schien, gab es in der ewigen Nacht des Lebens hinter verschlossenen Türen Zeiten, in denen Jeremiah die mächtigen Keramiksärge anstarrte, für die jetzt er verantwortlich war, und sich fragte, in was für eine Geschichte er da hineingestolpert war. Er fragte sich außerdem, was der Verfasser eigentlich von ihm erwartete. Ich bin einer von denen, um die in den Geschichten nie viel Wesens gemacht wird, sinnierte er eines Nachts, als die Werte wieder einmal normal waren und die Stunden zäh dahinschlichen. Die Erkenntnis quälte ihn nur minimal. Der Mann vor der Tür, der den Speer hält. Der irgendein Zauberdingsda auf einem Samtkissen anbringt, wenn jemand Wichtiges danach verlangt. Einer der Leute in der Menge, die »Hurra!« schreien, wenn das Abenteuer glücklich ausgeht. Ich bin schon immer dieser Mann gewesen. Hab für meine Mutter gearbeitet, bis ich erwachsen war, danach vierundzwanzig Jahre lang für die Frau Doktor. Kann sein, daß ich für den schönen Khalid dem allen entflohen wäre, wenn er mich dazu aufgefordert hätte, aber am Schluß hätte ich auch für ihn den Haushälter gespielt. Ich wäre bloß in seiner Geschichte gewesen statt in der der Frau Doktor oder meiner Mutter oder jetzt in diesem Irrsinn mit Apparaten und Schurken und diesem riesigen, leeren Bau im Berg. Natürlich hatte die Speerträgerrolle durchaus ihre guten Seiten, und diese vielstöckige Geisterstadt genauso. Er hatte jetzt Zeit, zu lesen und zu denken. Weder für das eine noch für andere war ihm viel Zeit geblieben, seit er damals die Stelle bei den Van Bleecks angetreten hatte. Seine ganze freie Zeit hatte er dafür geopfert, für das Wohl seiner Mutter zu sorgen, und obwohl Susan es ihm nicht übelgenommen hätte, wenn er ab und zu in einem stillen Stündchen gelesen oder Netz geguckt hätte, während sie mit ihrer Forschungsarbeit beschäftigt war, hatte ihn die bloße Tatsache ihres Vertrauens zu großen - und fast immer unbemerkten - Anstrengungen angespornt. Doch hier gab es buchstäblich nichts anderes zu tun, als die Anzeigen der V-Tanks zu beobachten und aufzupassen, daß die Flüssigkeiten rechtzeitig nachgefüllt wurden. Das war nicht schwieriger, als den teuren Wagen der Frau Doktor zu warten - der jetzt auf dem untersten Parkdeck des Wespennests stand und völlig einstauben würde, wenn er nicht alle paar Tage hinaufginge, um ihn mit einem Wischtuch zu säubern und sich über den eingedrückten Kühlergrill und die gesprungene Windschutzscheibe zu grämen.(...) Während er jetzt in der Dunkelheit des Büroraums lag, den er sich zu seinem Notschlafzimmer erkoren hatte, und der höchst ungewohnten Stille lauschte, fühlte er, wie ein kühler Wind der Furcht ihn durchwehte. War es jetzt endlich passiert? Oder war er selbst einfach nervlich zu angespannt? Wochenlang in einer verlassenen unterirdischen Militärbasis eingesperrt zu sein und dem Echo der eigenen Schritte und dem Gemurmel eines Verrückten zu lauschen, war der geistigen Gesundheit nicht gerade zuträglich. Vielleicht erschrak er schon vor Schatten - oder vor einer harmlosen Stille. Jeremiah ächzte leise und stand auf. Sein Herz schlug nur ein klein wenig schneller als normal, aber er wußte, daß er keine Chance hatte, wieder einzuschlafen, ehe er sich selbst davon überzeugt hatte, daß Long Joseph Sulaweyo auf dem Stuhl vor den Tankanzeigen saß. Oder vielleicht auf der Toilette war - selbst Jeremiah verließ während seiner Schicht hin und wieder den Raum, um einem natürlichen Drang nachzugeben oder sich einen Kaffee zu machen oder sich einfach durch einen der Belüftungsschächte ein wenig kalte Luft ins Gesicht blasen zu lassen. Das war es höchstwahrscheinlich. Jeremiah schlüpfte in ein Paar alte Pantoffeln, die er in einem der Spinde gefunden hatte - ein Komfort, durch den er sich wenigstens ein klein bißchen heimisch fühlte , und trat auf den Laufsteg hinaus, um auf die Ebene hinunterzuschauen, auf der die Bedienerkonsolen standen. Der Stuhl war leer. Noch immer sehr bewußt um Ruhe bemüht schritt er auf die Treppe zu. Long Joseph war bestimmt in der Küche oder auf der Toilette. Jeremiah würde einfach die Tanks beobachten, bis er zurückkam. Es gab sowieso nicht viel zu tun außer den immergleichen Tätigkeiten, das Wasser und andere Flüssigkeiten pünktlich nachzufüllen und das Sanitärsystem zu spülen und neue Filter einzusetzen. Und was konnte man sonst überhaupt tun, als Renie und !Xabbu aus den Tanks zu ziehen? Und das hatte Renie ausdrücklich verboten, solange kein ernster Notfall eintrat. Das Kommunikationssystem war schon am ersten Tag zusammengebrochen, und zwar, wie sich herausgestellt hatte, so gründlich, daß es für Jeremiah irreparabel war. Also selbst wenn Long Joseph irgendwo eine Runde drehte, war es nicht, als hätte er mitten in einer Seeschlacht das Steuer des Schiffes verlassen oder so. Alle Werte waren normal. Jeremiah überprüfte sie zweimal, um ganz sicherzugehen. Als sein Blick zum zweitenmal die Station überflog, bemerkte er das schwache Licht des Grafikbildschirms. Der Lichtstift lag daneben, das einzige an der ganzen Station, was sich nicht im rechten Winkel zu etwas anderem befand, eine einzelne minimale Unordentlichkeit, aber aus irgendeinem Grund ließ sie Jeremiah erschauern, als er sich vorbeugte, um den Bildschirm zu lesen. ICH HALTS NICHT MEHR AUS, stand da in plumper Schrift, die schwarz vom Leuchten des Bildschirms abstach. ICH WILL BEI MEINEM KIND SEIN.
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