Beschreibung
Eindringlich, berührend und authentisch berichten die zwölf Erzähler im Buch des polnischen Schriftstellers Henryk Grynberg über den Holocaust, aber auch über den Antisemitismus in der Sowjetunion. Grynbergs dokumentarische Prosa geht zurück auf die Erzählungen Überlebender, und sie reicht herauf bis in die Gegenwart. Seine Protagonisten überleben nur durch Zufall, denn die größte Gefahr geht von den Menschen aus - nicht nur von den Deutschen, sondern von all denen, die angesichts einer drohenden Katastrophe vor nichts zurückschrecken.
Autorenportrait
Henryk Grynberg wurde 1936 als Sohn jüdischer Eltern in Polen geboren. Er überlebte mit Hilfe "arischer Papiere" und in mehreren Verstecken den Zweiten Weltkrieg. Später Mitglied des Jüdischen Theaters in Warschau. lebt seit 1967 in den USA. Schreibt Romane, Prosa, Stücke, Essays. Auf Deutsch sind zuletzt: Kalifornisches Kaddisch (1993), Kinder Zions (1995), Galizische Erinnerungen. Zwölf Lebensbilder (Zsolnay, 2000).
Leseprobe
In die Schule schickten sie mich ein Jahr früher, weil ich groß war, und seit der ersten Klasse bekam ich zu hören: krätziger Jude. Und weil ich groß war und mich nicht unterkriegen ließ, gingen sie sich beschweren, daß ich sie schlage, und ihnen wurde geglaubt und mir nicht. Herr Dumin riß die orthodoxen Jungen an den Pejeß, ihr verstunkenen Itzigs. In der dritten Klasse unterrichtete uns Herr Komarnicki, ukrainisch KomarnyÊkyj. Jeder Buchstabe mußte genau so sein wie bei ihm, und für jede Abweichung setzte es die Rute auf den Hintern, und die Klasse sagte im Chor: Wer nicht brav polnisch schreibt, für den nur die Rute bleibt! Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, trat ihn und rannte unter der Rute davon. Vater mußte hingehen, und Komarnicki sagte ihm, daß alle anderen. Und Vater darauf, mich kümmert nicht, daß die anderen, mein Poldzio wird mir nicht angerührt! Vater war wunderbar. Ich gehe zum Kuratorium! In dieser Schule hatte einmal ein Lehrer einen Jungen mit der Faust totgeschlagen. Komarnicki ließ mich in Ruhe, doch er gab mir nie gute Noten. Sogar später noch, als er schon in Pension war, blieb der alte Hurensohn, wenn er mir mit Großmutter Pesia auf der Straße begegnete, weil er auf der WÛjtowska GÛra wohnte und dort entlang am Stock spazierenging, stehen und sagte zu Großmutter: Der ist der schlechteste Schüler in der ganzen Schule. Und Pesia meldete das natürlich unverzüglich meinen Eltern. Ach, was war das für eine schreckliche Jüdin, meine Großmutter! In der vierten Klasse war Herr Malawski, der war zivilisiert und prügelte nicht, aber je höher die Klasse, umso mehr Sitzenbleiber und Bauernsöhne gab es, immer älter, immer kräftiger, die uns prügelten und die Hausaufgaben zerrissen. Im Staatsgymnasium König Jagie==o entdeckte unser Geschichtslehrer, Marian Krokier aus Lemberg, überall in der Geschichte Zitate gegen die Juden. Mathematik unterrichtete der ukrainische Antisemit Krawczyszyn, der später eifrig den Deutschen diente, und Physik der Patriot Smolnicki, Pfadfinderführer und später Chef des Arbeitsamtes. Der Lateiner Wojtunik, aus der Gegend von Posen, sagte gleich nach seinem Kommen, Jüdleins, verhaltet euch schön ruhig, jetzt kommen andere Zeiten! Und die kamen tatsächlich, das konnte man in den Zeitungen sehen. Der Pfadfinderführer und Lyzeumsschüler Andrzej Chciuk war der Hauptkolporteur des "Ma=y Dziennik" und "Rycerz Niepokalanej". Vor Weihnachten verkauften Chciuk und seine Pfadfinder akademische Fische. Kauft nicht beim Juden, kauft akademische Fische, der Erlös für unsere Studenten! Damit sie die Juden an den Universitäten verprügeln konnten. Sie klebten den Aufruf von Oberst Koc, die Juden zu boykottieren, an die Zäune. Die staatliche Ölraffinerie "Polmin", mit dreitausend Leuten die größte, beschäftigte keine Juden. Die Arbeiter von "Polmin" wohnten in ihrer eigenen Siedlung, und die Kinder wurden mit dem Autobus in die Schule gebracht. Alles Nazis. In meine Klasse gingen die Söhne von Ingenieuren - Jankowski, Koz=owski, Denasiewicz - und die Söhne von Meister Kus, zwei Dummköpfe, die später Volksdeutsche wurden, ich habe sie auf der Straße gesehen - braune Hemden, Bajonette, Vater und Söhne. Seremak, auch ein Patriot, arbeitete bei der Kripo und fing Juden. Und der Sohn von Major Pitak. Major Pitak überwachte als Vertreter der Armee die Versorgung mit Benzin - an dem es jedoch für Panzer und Flugzeuge mangelte, als es am dringendsten gebraucht wurde. Mit Chciuk war der Lizeumsschüler Wolk befreundet, ein Ukrainer aus der WÛjtowska GÛra, der ein braunes Mal auf der Stirn hatte und später eine schwarze Uniform trug. Bruno Schulz malte zum 3. Mai und 11. November Pi=sudski und Mo?cicki. Er entwarf auch die Schulstandarte: auf der einen Seite Jagie==o und "Gott und Vaterland", und auf der anderen die Muttergottes von Ostra Brama und "Mutter, Königin der Polnischen Krone, bete für uns!" Der Text stammte natürlich von Direktor Kaniowski. Die Standarte wurde von der Lemberger Gesellschaft für Re Leseprobe