Beschreibung
Beim Thema Homosexualität hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten einen echten Paradigmenwandel durchgemacht. Es gibt in der Geschichte unserer jetzigen Republik nur wenige Beispiele, bei denen eine so starke Veränderung im Denken und in der juristischen Beurteilung eingetreten ist. Innerhalb der christlichen Gemeinden gibt es ebenfalls große Verschiebungen in der Wahrnehmung und zunehmende Konflikte, die oft mit massiven Aversionen, aber auch mit Schuld- und Versündigungsängsten verbunden sind. Wie lässt sich das erklären? Sind Fehlhaltungen die Ursachen oder gibt es aus Sicht des Glaubens berechtigte Gründe dafür? Was ist aus historischer, was aus psychotherapeutischer und was aus theologischer Sicht dazu zu sagen? Vor dem Hintergrund klinischer Erfahrungswerte unternimmt Autor und Dr. Martin Grabe in diesem kompakten Buch den Versuch, ein paar klare Gedanken dazu zu formulieren: »So ehrlich und deutlich, wie es mir nur möglich ist.«
Autorenportrait
Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut, ist seit 1998 Chef-arzt der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Außerdem ist er Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) und Mitherausgeber der Zeitschrift »P & S - Magazin für Psychotherapie und Seelsorge«. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.
Leseprobe
1. Warum hat unsere Gesellschaft eigentlich immer etwas gegen Schwule gehabt? In aller Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Szene und zwischen ihr und der LSBTI-Bewegung ist ein entscheidender Gesichtspunkt manchmal fast aus dem Blick geraten: Schwulenfeindlichkeit ist traditionell kein christliches Problem, sondern war immer ein gesamtgesellschaftliches; in unserem Land spätestens seit dem Mittelalter bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Noch vor zwanzig, höchstens 25 Jahren war es eine gesellschaftliche Schande, als homosexuell 'enttarnt' zu werden. Das kostete Betroffene in der Regel die weitere Karriere. Nur im künstlerischen Bereich galten etwas liberalere Maßstäbe. Gut zwei Jahrzehnte länger ist es her, dass wir noch den Paragrafen 175 in unserer Rechtsprechung hatten, der Homosexualität unter Strafe stellte. Bis heute ist zu beobachten, dass unsere gesellschaftlichen Konventionen im nördlichen Europa einen bestimmten 'Sicherheitsabstand' zum eigenen Geschlecht vorschreiben, der in südlichen Ländern so nicht zu beobachten ist. Dort ist es z. B. völlig in Ordnung, wenn Männer sich gegenseitig in den Arm nehmen oder Frauen im türkischen Bad sich gegenseitig liebevoll den Körper pflegen. Langsam ändert sich offensichtlich auch in unserem Land etwas. Ich bin jetzt in einem Männer-Hauskreis, wo man sich gegenseitig immer mit Umarmung begrüßt. War mir neu, aber warum nicht? Doch Begrüßungen mit Küsschen-Küsschen gehen als Mann nach wie vor nur befreundeten Frauen gegenüber. Anders ist es gar nicht vorstellbar. Gleichzeitig zu diesem größeren äußeren Nähe-Tabu in unseren Breiten gab es aber eine verbreitete Unkultur von diskriminierenden Anzüglichkeiten in Bezug auf Homosexualität und Schwulenwitze. Noch vor gar nicht so langer Zeit waren unter Männern Schwulenwitze eine der beliebtesten Witzekategorien. Erfolg war nahezu garantiert, so dümmlich der Witz auch war. Ich war in der Schule in einer reinen Jungenklasse und habe mich damals schon darüber gewundert. Aus tiefenpsychologischer Sicht liegt nahe - und ich mute Ihnen diese Aussage jetzt einmal zu -, dass es dabei insgesamt vor allem um die Abwehr eigener homoerotischer Anteile ging. Natürlich auch im eben genannten Beispiel, einer Schulklasse pubertierender Jungen. In einer Kultur, in der ein bestimmtes Empfinden tabuisiert wird, also immer wieder klargestellt wird, dass man dies und das auf keinen Fall sein darf oder empfinden darf, da versuchen Menschen, sich innere Sicherheit zu verschaffen. Das machen sie, indem sie äußeren Abstand einhalten und unerlaubte eigene Gefühle verleugnen, projizieren und andere Abwehrmechanismen anwenden - immer im Sinne der Verdrängung. Hier stoßen wir jetzt übrigens schon an eine Grundbedingung, um die wir nicht herumkommen, wenn wir konstruktiv mit homosexuell empfindenden Menschen umgehen wollen. Wir brauchen einen zumindest einigermaßen intakten Zugang zu unseren eigenen homoerotischen Anteilen. Jede tiefe Freundschaft zwischen Frauen und zwischen Männern hat diesen homoerotischen Anteil, auch wenn es beiden nicht um körperlich-sexuelle Annäherung geht, also sie selbstverständlich und ohne Leidensdruck diese Grenze einhalten. Gute Freundschaft unter Angehörigen des gleichen Geschlechts stellt eine hohe Stufe von Sublimierung homoerotischer Anteile dar, könnte man aus tiefenpsychologischer Perspektive sagen. Damit ist gemeint, dass es beiden gelingt, innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen, gefühls- und gewissensmäßigen Grenzen einen großen Freiraum zu gestalten, in dem sie ihre Freundschaft genießen können und oft auch Ideen und Aktivitäten nach außen hin entwickeln können. Freundschaftliche Beziehungen - zu beiden Geschlechtern, aber oft gerade zum eigenen - sind die inspirierendste Quelle unserer Kreativität. Wie weit Menschen homoerotische oder heteroerotische Impulse empfinden, ist übrigens recht unterschiedlich verteilt. Letztlich liegen alle Menschen auf einem Kontinuum, das stärker an dem einen ode