Beschreibung
Der Ich-Erzähler, ein in Deutschland lebender alter Berber, den es in seiner Jugend vom Hohen Atlas in die Niederungen Badens verschlagen hatte, hat sich endlich nach so vielen Jahren dazu durchgerungen, einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Im Augenblick dieses schmerzlich empfundenen Identitätstransfers verwebt er sich in ein Netz von Gedanken und Erinnerungen an die verlorene Heimat, an die Studienzeit in Heidelberg und an seinen Werdegang in Deutschland im Schatten von Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Rechtsextremismus und mörderischen Anschlägen, aber auch im Licht der Studentenbewegung, der Willkommenskultur, der Lichterketten und der Solidarität vieler Menschen. Somit entwirft er: Ein recht persönliches west-östliches Panorama der Geschichte Deutschlands in der Nacht, angefangen mit dem Heidelberger Manifest und Solingen bis zu den Anschlägen von Halle und Hanau, das er ständig mit dem Land der Dichter und Denker als mit dem Anderen Deutschland konfrontiert.
Autorenportrait
Fawzi Boubia ist ein deutsch-marokkanischer Geisteswissenschaftler und deutschsprachiger Schriftsteller. Er versteht sich als Citoyen des Orients und Okzidents und setzt sich als Komparatist und Kulturwissenschaftler für eine Kultur des Dialogs im mediterranen Raum ein. Nach einem Master in Literatur- und Politikwissenschaft erhielt Boubia von der Universität Heidelberg auch den Titel des "Doktors der Philosophie" und erlangte einige Jahre später die Habilitation an der Université Paris IV-Sorbonne. Als Professor für deutsche Literatur- und Kulturgeschichte lehrte er an den Universitäten Rabat und Caen und übernahm auch Veranstaltungen an den Universitäten Heidelberg und Karlsruhe. Boubia ist Germanist, Philosoph, Schriftsteller und Historiker mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Orient und Okzident. Seine Publikationen verfasst er vornehmlich auf Deutsch, aber auch auf Französisch und Arabisch.
Leseprobe
Als ich mein Foto in diesem Pass entdeckte, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich sah, wie meine Augen allmählich ihre Farbe wechselten. Ihr dunkelbrauner, ja schwarzer Ton ging allmählich in ein Himmelblau über. Im Kontext der dunklen Brauen und des schwarzen Krauskopfs sahen sie komisch-schrecklich aus. Ich sah schon dunkle Menschen mit hellblauen Augen, meist waren sie wunderschön, hatten aparte Gesichter von Natur aus. Aber dieses Gesicht vor mir war anders. Es hatte seine Ursprünglichkeit verloren und sah sehr künstlich aus. Ich empfand bei seinem Anblick keine Bewunderung, sondern Abscheu und Ekel. Ich konnte die Vorstellung nicht loswerden, dass hier mit unlauteren Mitteln versucht wurde, ein Gesicht dem Pass anzugleichen. Identifizieren konnte ich mich mit ihm wahrlich nicht mehr. "Was hast du bloß mit deinem Gesicht gemacht?" fragte ich mich. Als ich feststellte, dass auch meine Haare dabei waren, eine andere Farbe anzunehmen, und die Nase, orientalisch gebogen, sich wie meine Lage zuzuspitzen begann, bekam ich einen ordentlichen Schreck und blätterte die Seiten des Dokuments rasch um, denn ich fürchtete mich vor meinem eigenen Gesicht und dessen Metamorphosen. Und da war noch dieser Adler auf der Titelseite, mit dem ich nicht viel anfangen konnte, obwohl er vergoldet war. Seine Krallen ragten heraus, sein Gefieder war gespreizt und sein Hackschnabel wirkte martialisch. Wahrhaft kein schöner Anblick! Ich dachte mir, gerade Deutschland dürfte sich einen solchen Vogel nicht leisten, der die ganze Welt bereist. Gerade Deutschland hätte sich einen anderen Vogel, einen Vorzeigevogel einfallen lassen sollen. Eine Taube vielleicht, aber angesichts der blutigen Vergangenheit wäre das lächerlich! Also irgendetwas anderes. Oder gar nichts. Man sollte nicht unbedingt einen Vogel haben, und schon gar nicht im Pass.