Beschreibung
Unter Schlagwörtern wie postkoloniale Kritik, Woke oder Cancel-Culture breitet sich eine neue Form politischer Korrektheit aus. Dabei geht es weniger um empirisch fundierte Einsichten als um Sprachregelungen, mit denen sich deren Verfechterinnen und Verfechter gegenseitig bescheinigen, auf der einzig richtigen Seite zu stehen. Und die daraus das Recht ableiten, diejenigen zu zensieren oder zum Schweigen zu bringen, die diesen Regelungen nicht folgen. In den Essays und Erzählungen seines neuen Buchs, das den Postkolonialismus im Untertitel führt, setzt Hans Christoph Buch sich vehement zur Wehr gegen schreckliche Vereinfacher. Der Autor weiß, wovon er spricht: Seine Großmutter stammt aus Haiti, und er hat afrikanische und andere Krisengebiete der ganzen Welt als Reporter bereist. Was ihn von Kriegs- und Katastrophentouristen unterscheidet, ist sein kulturelles Gedächtnis, der historische Tiefgang und ein erzählerischer Elan, der die Lektüre zum Leseerlebnis macht: von Hark Olufs, dem von Rifpiraten versklavten Schiffsjungen aus Amrum, über Lettow-Vorbecks 'treuen Askari', der im KZ starb, vom Fahrradtouristen, der ein Todeslager in Guinea mit knapper Not überlebt, bis zum Mord an Haitis Staatschef Jovenel Moïse reicht der Spannungsbogen.
Autorenportrait
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden, Marseille und Kopenhagen auf. Er studierte in Berlin Germanistik und Slawistik. Sein erstes literarisches Werk 'Unerhörte Begebenheiten' erschien 1966. Ihm folgten zahlreiche Veröffentlichungen, Romane, Erzählungen, Reportagen und Streitschriften. Große Beachtung fand seine Poetikvorlesung an der Frankfurter Universität unter dem Titel 'Die Nähe und die Ferne - Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks.' Writer in Residence und Poetikdozent in New York, San Diego, Austin, Buenos Aires, Santiago, Havanna, Hangzhou und Qingdao. Er war immer ein Autor, der sich politisch positionierte. Als Reporter für große deutsche Zeitungen reiste er in die Krisengebiete Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Wenn er nicht unterwegs ist, lebt er in Berlin und im Wendland.
Leseprobe
Ostern 1968 stieg ich zum ersten Mal in Haiti aus dem Flugzeug. Es ist ein schwer definierbares Gefühl, als Weißer durch die Straßen von Port-au-Prince zu laufen, angestaunt von schwarzen Kindern und verfolgt von selbsternannten Guides, die mir den Weg zum nächsten Hotel oder Bordell zeigen wollten. Blanc, bam youn dola- Weißer gib mir einen Dollar! Der Ruf gellt mir noch jetzt in den Ohren. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut, weil ich plötzlich nicht mehr als ein Individuum, sondern als Angehöriger einer Rasse galt eine existentielle Verunsicherung, die Migranten ständig zu spüren bekommen. Das Erstaunlichste aber war, dass mir keinerlei Aggression entgegenschlug, obwohl die Haitianer, deren Vorfahren aus Afrika verschleppt und versklavt worden waren, Grund genug gehabt hätten, mir böse zu sein nach all dem, was Europäer und Nordamerikaner ihnen angetan hatten.' 'Ich bin ja nicht nur Deutscher, Romanautor und Reporter. Meine Großmutter war Kreolin, mein Großvater ging als Apotheker und Botaniker nach Haiti, wo er begraben liegt. All das steckt in mir. Wir sind alle viel mehr, als wir wahrhaben wollen.' HC Buch im Gespräch mit Arno Widmann, Frankfurter Rundschau