Leseprobe
Das Gegenteil von einsam Die Tür hinter sich schließen. Endlich allein. Ein Buch. Musik. Gutes a¿§Essen. Der Tisch ist gedeckt. Heute bleibe ich bei mir. Die Fähigkeit, allein zu sein, ist eine Lebenskunst, die schon in der Antike gerühmt wurde. Aristoteles bezeichnete den Menschen zwar als ein ''soziales Tier'', dennoch fand er das Alleinsein unerlässlich für das seelische Wohlbefinden, um eine gesunde Balance zwischen Innen- und Außenwelt zu erreichen. Heute würde Aristoteles das vielleicht so begründen: Wir modernen Menschen, die überall und jederzeit ''online'' zur Verfügung stehen müssen und gar nicht mehr abschalten können, brauchen Auszeiten. Alleinzeiten. Unser tägliches Schweigen gib uns heute, lautet die Bitte eines Philosophen in diesem EXTRA. Doch viele Menschen scheuen das Alleinsein. Mit dem Wort Alleinsein verbinden sie die beängstigende Vorstellung von sozialer Isolation, von schmerzender Einsamkeit. In eine Welt geworfen zu sein, in der es für sie kein Netz und keinen Zusammenhalt gibt. Andererseits weiß man: Menschen, die nicht allein sein können, können auch nicht wirklich gut mit anderen Menschen zusammen sein. Aber vielleicht hat die Bibel ja doch recht, wenn sie sagt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Auch diese Frage erörtern wir in diesem EXTRA. Die Fähigkeit, allein zu sein, setzt Freundschaft mit sich selbst voraus. Erst dann kann ein Mensch sich a¿§ohne Angst und in freier Entscheidung seinem Nächsten zuwenden. Wer gut mit sich allein sein kann, ist in der Lage, sich aus dem Getriebe der Welt zurückzuziehen, Orte zu suchen, in denen er den Erwartungen der andern nicht dauerhaft ausgesetzt ist. Er kann in Distanz treten zu dem, was ihn fordert, treibt und womöglich auch überfordert. Allein sein und einsam sein - obwohl der Klang der Worte sich ähnelt, a¿§bedeutet Alleinsein das Gegenteil von Einsamsein. Einsam ist man in der Welt, wenn man sich selbst verliert - das ist die Botschaft, die alle a¿§Autorinnen und Autoren in diesem EXTRA zusammenführt. Sie suchen Antworten darauf, wie man es schafft, langsam und in kleinen Schritten bei sich anzukommen. Die Fähigkeit, allein zu sein, ist eine Gabe, die niemandem geschenkt wird - sie muss ein Leben lang immer wieder neu geübt werden. Man lernt sie im besten Fall in der Kindheit, öfter jedoch in schweren Krisen, wenn nichts mehr bleibt als wüten und weinen. Auch davon erzählen die Autoren in diesem EXTRA. Vom ''Exil des Alters'', in dem sie die Denk- und Verhaltensweisen der Jüngeren kaum noch verstehen. Von ihrem Aufenthalt in ''Krebsland'', jenem kalten Ort, wo sie dem Tod gegenüberstehen, ''nackt und federlos''. Von Landungen auf ''fremden Planeten'', die sie einst irrtümlich als sichere Nester der Liebe wähnten. Sie erzählen vom Suchen und Finden eines Glücks, das in ihnen wohnt. Heute bleibe ich bei mir. Menschen, die gern mit sich allein sind, denen ist es gelungen, im Laufe ihres Lebens ein inneres Haus zu bauen, in dem sie gern wohnen, in das sie freudig ein- und ausgehen, in das sie gern Gäste einladen. Ein Haus, in dem sie bei sich selbst sein dürfen. Doris Weber