Beschreibung
Im Alter von über neunzig Jahren hält Éva Fahidi in ihrem neuen Buch Lieben und geliebt werden Rückschau auf ihr zweites Leben, das beginnt, als sie nach neunzehn Monaten im Lager Auschwitz-Birkenau und Zwangsarbeit in Allendorf als traumatisierte Überlebende des Holocaust in ihre ungarische Heimat zurückkehrt. Schonungslos offen spricht sie über ihre unerfüllten Hoffnungen in den Kommunismus und die bitteren Enttäuschungen, die sie sowohl in politischer wie in menschlicher Hinsicht erlebte. Mit ihren Schilderungen bricht sie ein langes, auch gesellschaftlich 'verordnetes' Schweigen. Was sie erzählt, zeugt von der erschreckenden Erkenntnis menschenverachtender, fataler Parallelitäten in den Machtstrukturen autoritärer Systeme wie dem Stalinismus und dem Faschismus. Mit viel Humor schildert Éva Fahidi ihre Erfahrungen im sozialistischen Alltag und gewährt Einblicke in sehr private Bereiche ihres Lebens.
Autorenportrait
Éva Fahidi wurde 1925 in Debrecen/Ungarn geboren, 1944 mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester nach Auschwitz deportiert. Nur Éva überlebte die Shoa als Zwangsarbeiterin in Allendorf. 1945 kehrte sie nach Ungarn zurück, wo sie bis heute lebt. Im Kommunismus arbeitete sie als sogenannter 'deklassiertes Element' auf dem Bau, später als Außenhandelsvertreterin im Stahlexport. Heute engagiert sie sich als Zeitzeugin gegen das Vergessen und Verleugnen des Holocaust.
Leseprobe
Statt eines Vorworts Am 1. Juli 2003, neunundfünfzig Jahre nach meiner Verschleppung nach Auschwitz-Birkenau, kehrte ich aus eigenem Entschluss dorthin zurück. Ich war damals achtundsiebzig Jahre alt. Danach wollte ich das Unsagbare aus mir herausschreiben. Mithilfe des Zuspruchs und der Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde schrieb ich das Buch Anima Rerum. Die Seele der Dinge, das 2004 in Ungarn erschien. Es hat mittlerweile die dritte Auflage erlebt und damit einen recht großen Leserkreis erreicht, wenn man bedenkt, dass ich nicht zu den etablierten Schriftstellerinnen gehöre. Darüber freue ich mich sehr und ich möchte allen, die mein Buch gelesen haben, dafür danken. Schon vor 1947, dem Jahr, in dem das vorliegende Buch den Erzählfaden aus Anima Rerum wieder aufnimmt, erlebten nicht alle von uns das, was uns widerfuhr, auf die gleiche Art und Weise. Das gilt auch für die Jahre danach. Doch auch wenn Schmerz, hilflose Wut, Erniedrigung und Hass nicht für jeden das Gleiche bedeuten, so gibt es doch viele Erfahrungen, die wir teilen. Und wir haben eben - abhängig vom Datum unserer Geburt - eine Reihe von Jahren nach 1947 gemeinsam erlebt. Mit dem Titel meines Buches, Lieben und geliebt werden, möchte ich keine falschen Hoffnungen wecken. Meine Ausführungen über den ungarischen Sozialismus geben ihn so wieder, wie ich ihn erlebt habe. Es geht mir nicht um die Schilderung tagespolitischen Geschehens. Ich liebe es, über Menschen zu schreiben, bisweilen ein bisschen mit scharfer Zunge zu sticheln, und nicht immer kann ich mir meinen Hang zur Ironie verkneifen. Schon so oft hat man mich gefragt, was ich für gut und was ich für wichtig halte, was ich tun würde, wenn. Man kann in der Tat viele Lehren ziehen aus etwas, was geschehen ist, diese dann auch in die Tat umzusetzen, ist eine andere Sache. Die für mich wichtigste Lehre aus der Geschichte möchte ich an dieser Stelle deutlich herausstreichen: Es braucht ungefähr zweihundert Jahre, bis man wissen kann, was tatsächlich passiert ist. Denn nach einer so langen Zeit ist niemand mehr am Leben, der ein Interesse daran hätte, die historischen Tatsachen zu verdrehen. Diese allgemeingültige Weisheit stammt nicht von mir, sondern von Anatole France, den ich hier sinngemäß zitiere. Vor dem Hintergrund seiner Aussage kann ich denen, die die Geschichte heute verfälscht darstellen, nur prophezeien, dass die Nachwelt sie entlarven wird. Was sind schon zweihundert Jahre? Eine persönliche Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen ich aus dem, was geschehen ist, für wichtig erachte, fällt mir leichter: Ich wünsche mir, dass sich die Welt in dem, was von grundlegender Wichtigkeit ist, einig ist. Aber was ist grundlegend wichtig? Zum einen ist es das LEBEN. Noch nie ist jemand von der anderen Seite zurückgekehrt. Hier, auf dieser Seite, sollte man human, anständig und empathisch sein, denn wir können ein einmal verlorenes Leben niemals ersetzen. Wer das in Abrede stellt, ist verlogen, zynisch und unmenschlich. Zum anderen ist es die FREIHEIT. Eine Freiheit, die man nicht zu erklären braucht. Die Freiheit, in der sich der Wille der nicht manipulierten Mehrheit manifestiert - was zuweilen, wenn auch nicht perfekt, eine Zeitlang gelingt und was man dann Demokratie nennt. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass uns diejenigen Menschen am nächsten stehen, die in uns Gefühle erwecken, die uns glücklich machen oder auch manchmal schmerzlich sind. Menschen, von denen wir glauben, dass wir ihnen wichtig sind, weil sie ihrerseits uns sehr wichtig sind. Menschen, denen wir vertrauen, denen wir alles sagen können, die wir lieben und die wir glücklich wissen wollen. Menschen, die unserem Alltag einen Inhalt geben, um derentwillen wir nach Hause eilen, um etwas Feines zu kochen. Mit solchen Menschen habe ich in der Zeit des ungarischen Sozialismus gelebt. Mit ihnen teile ich die Erfahrungen dieser Jahre. Diese Menschen sind das Wichtigste in meinem Leben. Über sie schreibe ich. Und ich danke ihnen dafür, dass sie stets für mich da waren und da sind.