Beschreibung
Rund achtzig feste Opernensembles gibt es hierzulande, beinahe so viele wie im gesamten Rest der Welt. Nicht nur in München und Dresden, sondern auch in Detmold und Cottbus. Ralph Bollmann hat sie alle besucht. Als er in Meiningen die 'Tosca' sah, wurde das Land noch von Helmut Kohl regiert. Als er in Plauen 'Lohengrin' besuchte, rief Gerhard Schröder die Hartz-Reformen aus. Und als er 2010 nach Ulm zur 'Salome' fuhr, stand der Euro vor dem Absturz. Eine Entdeckungsreise durch Geschichte und Gegenwart: Die deutsche Kleinstaaterei mit all ihren Skurrilitäten und der Föderalismus sind der Boden, auf dem dieser kulturelle Reichtum der Provinz gewachsen ist.
Autorenportrait
Ralph Bollmann, Jahrgang 1969, studierte Geschichte, Politik und Öffentliches Recht in Tübingen, Bologna und Berlin und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Nach dreizehn Jahren als Politikredakteur bei der taz wechselte er 2011 als wirtschaftspolitischer Korrespondent zur Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Weitere Informationen zu Ralph Bollmann unter www.ralph-bollmann.de
Leseprobe
Strelitzer Ouvertüre Es geschah an einem der letzten lichten Sommertage. Still lagen die Straßen der kleinen Provinzstadt unter der gleißenden Sonne. Kein Café belebte den riesigen Marktplatz. Staubig ruhte der öde Schotterplatz, der den Standort des einstigen Schlosses markiert. Kurz nach Kriegsende war es ausgebrannt, die Reste wurden bald danach gesprengt, seither bleiben der Kleinstadt in Mecklenburg kaum Attraktionen außer der Natur. Wirklich nicht? Das Wunder ereignet sich gleich hinter dem kleinen Schlosspark mit seinen Wasserspielen, griechischen Skulpturen und klassizistischen Tempelchen, den scheinbar einzigen Relikten aus der Vergangenheit als Hauptstadt des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz. Ganz plötzlich, hinter einem kleinen Wäldchen, erhebt sich in strahlendem Gelb ein Gebäude, das weit größer ist als jedes andere Bauwerk des Städtchens. An der Fassade wirbt ein Plakat für kaum Glaubliches. 'Heute: Fidelio' steht in großen Buchstaben über dem Säulenportal. Oper, die aufwendigste aller Künste, der Inbegriff von Luxus und Verschwendung mit Hunderten von Beschäftigten, den sich schon die Hauptstadt Berlin kaum leisten will - und das hier, in Neu strelitz, einem Ort von gerade 25 000 Einwohnern? Es ist dieser Kontrast, der mich sofort gefangen nimmt. Ich bin in Tübingen aufgewachsen, einer Stadt der protestantischen Wortkultur mit einer Bevölkerung von rund 80 000 Menschen, aber ohne Musiktheater. Dafür musste man nach Stuttgart fahren. Oper war für mich immer ein Großstadtvergnügen. Ein paar Karten gibt es noch für die Vorstellung an diesem Nachmittag, beste Plätze im Parkett für gerade 25 Mark. Ein kurzes Zögern: soll ich den letzten warmen Sonntag ausgerechnet im Dunkel eines Opernhauses zubringen? Kaum hebt sich der Vorhang, ist jeder Zweifel verflogen. Nicht die erwartete Provinzaufführung wird gezeigt, nicht das biedere Verlies, in das selbst viele Großstadtbühnen Beethovens Freiheitsoper zwängen. Nein, das Gefängnis, von dem die Handlung spricht, es präsentiert sich hier als Alltag: Wände aus Sprelacart, dem Holzimitat, das im Westen Resopal heißt. Der Regisseur ertränkt das Pathos des Schlusschors in Bierbüchsen und Vollrausch: eine Inszenierung, wie sie 1997 keines der Berliner Opernhäuser gewagt hätte. An diesem Tag ist es passiert. Die Opernprovinz hat mich in ihren Bann gezogen. Ich fasse einen Entschluss, der mein Bild von Deutschland grundlegend verändern wird: Alle deutschen Opernhäuser möchte ich besuchen. Ich kaufe mir ein sechsbändiges Opernlexikon und abonniere die einschlägige Fachpresse. Ich ordne die Bühnen nach Bundesländern, nach der Größe der Stadt, nach der Anzahl der Sitzplätze, nach der Stärke des Ensembles. Ich scheide frühere Hoftheater von bürgerlichen Stadttheatern, sortiere nach alten und neuen Bundesländern, liste auf einem Zettel die Gründungsjahre auf. Bald wird sich herausstellen, dass es bei meinem Unternehmen um weit mehr geht als um Oper. Es verschlägt mich in Städte, die ich zuvor nicht besucht habe, in Lebenswelten, mit denen ich sonst nicht in Berührung komme. Die Reise zu den Opern wird zur Reise in ein unbekanntes Deutschland: in ein Land voller Gegensätze, die sich in einfachen Kategorien wie Metropole oder Provinz, Ost oder West, Arm oder Reich nicht fassen lassen; ein Land, das sich während der zwölf Jahre meiner Reise spürbar verändert; ein Land zwischen Aufbruch und Krise. Gleichzeitig wird es eine Entdeckungsfahrt durch Geschichte und Politik. Neustrelitz ist keineswegs so exotisch, wie ich dachte. Auch in anderen Städten dieser Größenordnung gibt es Opernhäuser, im thüringischen Meiningen beispielsweise, im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz oder in Radebeul bei Dresden. Insgesamt, so zähle ich zusammen, bringen fest engagierte Opernensembles an 81 Standorten in Deutschland Musiktheater auf die Bühne, flächendeckend von Aachen bis Görlitz und von Stralsund bis Freiburg. Mehr als fünftausend fest angestellte Musiker zählen die Orchester, fast Leseprobe
Schlagzeile
81 Orte, 84 Opern: In Deutschland spielt die Musik in der Provinz