Vertrauen ist ein ebenso alter wie alltäglicher Begriff. Vertrauen sei gut, Kontrolle jedoch besser, verkündeten die bolschewistischen Revolutionäre. In der aktuellen Schuldenkrise ist davon die Rede, dass man Banken und Staaten nicht mehr vertrauen könne und Vertrauen zurückgewonnen werden müsse. Was aber ist Vertrauen? Wie lässt es sich theoretisch erklären und empirisch erforschen? Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen erörtern diese Fragen aus interdisziplinärer Perpektive. Sie zeigen in ihren Beiträgen, dass Vertrauen das Fundament sozialer Beziehungen ist, weil es Menschen Sicherheit gibt und Gesellschaften stabilisiert.
Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin.
Erwartungssicherheit und Vertrauen: Warum manche Ordnungen stabil sind, und andere nicht
Jörg Baberowski
Als nach dem Ende der Sowjetunion Reporter aus Deutschland die Kohlegrubenin Donezk besuchten, wollten sie von den Arbeitern wissen, wiesie über die Meinungsfreiheit dächten, die Michail Gorbatschows Reformenihnen beschert hatten. Natürlich erwarteten die Männer und Frauenaus dem Westen, dass die Arbeiter ihnen bestätigten, was sie für selbstverständlichhielten: dass die Macht des freien Wortes über die Finsternis derDiktatur gesiegt hatte. Zwar war die alte Ordnung zerfallen, und ihre Ritualewirkten nun seltsam fremd. Aber die Arbeiter empfanden das Endeder Sowjetunion als tiefe Verunsicherung. Die Inflation hatte die Währungentwertet, in den Geschäften gab es nichts zu kaufen, und von derArbeit in den Kohlegruben und Stahlwerken konnten sie nicht mehr leben.Auf den Straßen regierte das Faustrecht und in der Politik übernahmdie Mafia, wofür einst die Kommunistische Partei zuständig gewesen war.Er jedenfalls brauche seinen Mund nur zum Essen, antwortete ein Arbeiterauf die Frage, was ihm die Meinungsfreiheit gegeben habe.
Wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion war der Glaube an dieBeherrschbarkeit der Welt erschüttert. Niemand mochte den Versicherungender politischen Führung noch glauben, die von freier Marktwirtschaftund freien Wahlen sprach, aber nur den Mangel und das Chaos verwaltete.Das Vertrauen darauf, auch am nächsten Tag noch Arbeit und Brot,Sicherheit und Ordnung zu haben, war zerstört. Als die alte Ordnung zerfiel,hofften auch die Arbeiter in den Kohlegruben von Donezk, dass allesbesser werden würde. Die Enttäuschung aber tauchte das Leben in derDiktatur in helles Licht. »Wir müssen alles auf neue Weise tun«, sagte eineArbeiterin, die vom amerikanischen Historiker Lewis Siegelbaum imJahr 1992 befragt wurde. »Wir sind jetzt wie blinde Welpen.« Was imWesten für eine Errungenschaft gehalten wurde, empfanden die Arbeiteraus Donezk als Verhöhnung und Demütigung. Die Diktatur hatte überdie Demokratie, das Verlangen nach Ordnungssicherheit über die Freiheitgesiegt.
1. Stabilität und Erwartungssicherheit
Nur vor dem Hintergrund überwundener Unsicherheit wird das Lebenin seiner Stabilität wahrnehmbar und erfahrbar. In den Zeiträumen desÜbergangs scheidet sich Altes von Neuem, und es ist zu erwarten, dassMenschen, die eine Krise hinter sich gelassen haben, sich noch an sie erinnernund über die Stabilisierung ihres Lebens anders sprechen als all jeneMenschen, für die das Leben in stabilen Verhältnissen eine Selbstverständlichkeitist. Die einen werden die Stabilisierung sozialer Verhältnisse zumGegenstand ihrer Selbstvergewisserung machen, die anderen werden, wasfür sie eine Selbstverständlichkeit ist, nicht als Herausforderung begreifen,auf die sie eine Antwort geben müssen.
Veränderungen operieren mit schon Vorhandenem. Alles Neue musssich zum Alten in Beziehung setzen, und deshalb kann der Wandel nichtvon seiner Deutung getrennt werden. Es kann keine Stabilisierung geben,die nicht auch in den Köpfen und Herzen von Menschen als Stabilisierungwahrgenommen wird. Wenngleich Menschen nur selten eineVerfügungsgewalt über das Geschehen besitzen, das sie mitreißt und an einenOrt stellt, haben sie dennoch die Entscheidung darüber in der Hand,wie sich ihr Leben verändert. Wie sich der Wandel vollzieht, hängt davonab, ob man ihn auffängt, steuert und für eigene Zwecke nutzbarmacht, ob man Veränderungen aushält, weil man den Institutionen undRegelsystemen vertraut, die eine Gesellschaft zusammenhalten, oder obman an Herausforderungen zerbricht, weil es keine sozialen Mechanismengibt, die es Menschen ermöglichen, Veränderungen auszuhalten oderals Lebensgewinn zu begreifen. Wer Teil einer Misstrauensgesellschaft ist,Krieg und Zerstörung erlebt hat, wird Veranderungen anders bewältigenals jemand, der in einer sozial abgesicherten und verregelten Umwelt lebt.Der eine wird Wandel möglicherweise als nicht kalkulierbare Bedrohungverstehen, der andere als Chance begreifen, weil seine alltäglichen Lebensrisikendurch Regelvertrauen kompensiert werden können.
Auf den ersten Blick scheinen Wandel und Stabilisierung einander auszuschließen,denn was dem Wandel unterworfen ist, ist in Bewegung. Aberaus Bewegung und Veranderung kann Stabilität erwachsen, entweder, weilMenschen in modernen, differenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaftenerwarten, dass sich stets alles ändert, oder weil vormoderne, nicht differenzierteMisstrauensgesellschaften ihre Stabilität dadurch gewinnen, dass sieden Wandel durch Bewahren des Bewahrten bewältigen. In beidem istder Wandel auf eine Weise im Spiel, dass er sich mit der Stabilisierungvon Lebensverhaltnissen in Einklang bringen lässt.
Im Licht des Wandels zeigt sich, was sich vom Alten im Neuen erhält,dass es keine Stabilisierung geben kann, die nicht zugleich Praktikenenthielte, die Menschen gegen Krisen immunisieren: durch Sozialisationerworbene Fähigkeiten, das Leben zu bewältigen, Erinnerungen, die ausdem kulturellen Wissen längst vergangener Zeiten schöpfen, Rituale undSymbole, die Gemeinschaft stiften und Vertrautheit schaffen. Es gibt keineErfahrung ohne Tradition und keinen Wandel ohne Widerstand, gegenden er sich durchsetzen muss. Allein vom sozialen und kulturellen Orthängt es ab, auf welche Weise sich Ordnungen stabilisieren, wie haltbarund von welcher Dauer sie sind. Denn jeder Lebensbereich hat einen eigenenVeränderungsrhythmus, der ihn von anderen unterscheidet. Wasimmer auch ins Gleichgewicht gebracht wird: es gibt keine Stabilität, dienicht aus der Dialektik von Wandel und Tradition lebt.
Situationen der Stabilisierung sind Momente der Entschleunigung, derVeränderung des Lebensrhythmus, weil Menschen, die Institutionen undRegeln vertrauen und sich der Gewohnheit hingeben, Zeit sparen. Dennder Aufwand, den sie betreiben müssen, um Informationen zu beschaffenund Risiken vorzubeugen, wird sich in Grenzen halten, wenn sie daraufvertrauen können, dass die Veränderung der Verhältnisse ihre Lebensweltnicht erschüttern wird.
Warum und wodurch sind Ordnungen stabil? Eine mögliche Antwortkönnte lauten: wenn Menschen Erwartungssicherheit haben und sichdurch wiederkehrende soziale Praktiken daran gewöhnen, für normal zuhalten, was ihnen täglich widerfährt. Gegen Gewohnheiten kann die Vernunftnicht Recht behalten, weil Gewohnheiten das Leben strukturierenund es in eine stabile Ordnung bringen. Menschen nehmen an Ritualenteil, obgleich sie wissen, dass sie vor der Vernunft nicht bestehen können,aber sie tun es nicht, weil sie von ihrem überlegenen Sinn überzeugt sind,sondern weil sie ihrem Leben einen Halt geben und es berechenbar machen.Aber damit wäre über die Stabilisierung von Lebensverhältnissennur die halbe Wahrheit gesagt. Denn es ist natürlich vorstellbar, dassKriege, Blutrachefehden, Diktaturen und Massaker für normal gehaltenwerden, vor allem von solchen Menschen, die nie etwas anderes kennengelernt haben. Selbst im Ausnahmezustand, in Kriegen und Diktaturenkann es eine Erwartungssicherheit geben, die auf Selbstverständlichesverweist. Denn man kann mit der Unsicherheit leben und Vorkehrungentreffen, um sich auf sie einzustellen. Wenn der Tod zur Normalitätwird, Gewalt und Willkür regieren, wird die richtige Einschätzung vonSituationen zur Lebensversicherung. Auch sie wird erlernt, und baldschon gewöhnen sich Menschen daran, der Unsicherheit so zu begegnen,dass man sie kulturell bewältigen kann. Ordnungssicherheit entsteht erstdort, wo Menschen wissen, was sie und was andere tun dürfen und tunmüssen; wenn sie zu wissen glauben, dass die anderen sich auch wirklichso verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. Solche Erwartungssicherheitist auch dort möglich, wo Angst und Schrecken den Alltag strukturieren.
Inhalt
Erwartungssicherheit und Vertrauen: Warum manche Ordnungen stabil sind, und andere nicht .................................................................7 Jorg Baberowski
Über Vertrauen reden: Historisch-kritische Beobachtungen.................31 Ute Frevert
Vertrauen: Drei Beispiele aus einer praxistheoretisch orientierten Geschichtswissenschaft........................................................................49 Thomas Welskopp
»Die Wahrung der Finanzmarkte ist Vertrauen«: Nachhaltigkeit und Hinterhältigkeit eines mentalen Phänomens in historischer Perspektive ..........................................................................................73 Jakob Tanner
Vertrauen als Voraussetzung, Inhalt und Gegenstand von Recht........101 Ann-Katrin Kaufhold
Vertrauen in Räumen begrenzter Staatlichkeit . Eine politikwissenschaftliche Analyse ................................................127 Thomas Risse
Auswahlbibliographie ........................................................................147
Autorinnen und Autoren...................................................................153