Beschreibung
Alice von Platen distanzierte sich als junge Ärztin während des Nationalsozialismus von Eugenik und "Euthanasie". Dies prädestinierte sie dafür, 1946 zusammen mit Alexander Mitscherlich im Auftrag der deutschen Ärztekammern den Nürnberger Ärzteprozess zu beobachten. Ihr anschließend verfasstes Buch Die Tötung Geisteskranker in Deutschland kam jedoch nie in den Buchhandel und wurde erst 1993 wieder entdeckt und neu aufgelegt. Damit wurde die Autorin, mittlerweile bekannt als Psychoanalytikerin, eine gefragte Rednerin und Interviewpartnerin. Das bewegte Leben Alice von Platens - sie verstarb 2008 - schildert Reinhard Schlüter vor dem Hintergrund der unrühmlichen Geschichte der Medizin im Dritten Reich und deren schwieriger Aufarbeitung in der Nachkriegszeit.
Autorenportrait
Reinhard Schlüter, geboren 1948, ist Publizist (er schreibt unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und "Psychologie Heute") und seit vielen Jahren Autor der Sendungen "RadioWissen" und "ZeitReisen" im Bayerischen Rundfunk. Er lebt in Spanien und Österreich, wo ihm Alice Ricciardi als Mitbegründerin der seit 1975 stattfindenden Altausseer Ausbildungskurse der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse begegnete.
Leseprobe
Prolog - Der Kälte entgegen Das klamme Unbehagen, das Alice von Platen an diesem Sonntagmorgen, dem 8. Dezember 1946, bei ihrer Abfahrt aus Heidelberg erfasste, scheint sich mit jedem Kilometer zu verstärken, der sie näher an Nürnberg heranbringt. Was erwartet sie in der Stadt der ehemaligen "Reichsparteitage"? Wie wird die amerikanische Militärgerichtsbarkeit den deutschen Vertretern jener Zunft begegnen, um deren Verbrechen während der NS-Zeit es in Nürnberg ab morgen geht? Werden sie und ihre Kollegen länger als nur ein paar Tage bleiben dürfen? Wird sie dies überhaupt wollen? Seitdem der Vater ihres fünfjährigen Sohnes das Ende ihrer Beziehung signalisierte und Professor Viktor von Weizsäcker sie wenig später wissen ließ, dass ihre Zeit als Voluntärassistentin an der psychosomatischen Abteilung der Heidelberger Klinik gezählt sind - zugunsten der aus dem Krieg heimkehrenden männlichen Wissenschaftler, an ihrer ärztlichen Befähigung gebe es keine Zweifel - spürt Alice von Platen alte Existenzängste neu aufbrechen, weiß sie, dass ihre "Odyssee" einmal mehr nur für kurze Zeit unterbrochen war und scheinbare Gewissheiten sich einmal mehr aufzulösen beginnen. Sollte ihre Mutter am Ende doch Recht damit behalten, die sie 1928 vor dem Medizinstudium warnte - wohl ahnend, dass die Stellung der Frau sich in diesem traditionell von Männern beherrschten Beruf auf lange Sicht kaum bessern würde? Auch 1946 liegt der Frauenanteil innerhalb der deutschen Ärzteschaft bei allenfalls 13 Prozent, übt ein Fünftel der approbierten Ärztinnen ihren Beruf nicht aus - oftmals zugunsten der gesellschaftlich erwünschten Rolle als Hausfrau und Mutter. So gesehen kann Alice von Platen sich als einzige Frau unter den sechs Medizinern, die ab dem morgigen Montag als "deutsche Beobachterkommission" dem Nürnberger Ärzteprozess beiwohnen sollen, gleichsam "überrepräsentiert" fühlen: Fred Mielke, 24-jähriger Medizinstudent an der Universität Heidelberg, ist der einzige Nicht-Arzt im Team. Der zweite, Friedrich Benstz, promovierte bei Viktor von Weizsäcker und zählt zu jenen Wissenschaftlern, denen Weizsäcker nun den Vorzug vor der "Praktikerin" Alice von Platen gibt. Auch Wolfgang Spamer war bis vor kurzem in Weizsäckers Abteilung der Heidelberger Ludwig-Krehl-Klinik tätig. Der knapp 35-Jährige wollte sich gerade als praktischer Arzt in Neckarsteinach niederlassen, als ihn sein ehemaliger Chef bat, sich der von Alexander Mitscherlich angeführten Gruppe anzuschließen. Mitscherlich, 38 Jahre alt, Neurologe mit der bewegten Vergangenheit eines Philosophie- und Geschichtsstudenten, Buchhändlers und Gestapohäftlings, war nach den Querelen um das von ihm angestrebte und nach einem Gutachten von Karl Jaspers verwehrte "Institut für Psychotherapie" an der Universität Heidelberg der Anfrage des "großhessischen" Ärztekammerpräsidenten Carl Oelemann gegenüber, eine deutsche Beobachterkommission beim Ärzteprozess zu leiten, prinzipiell aufgeschlossen. Mitscherlichs einzige Bedingung: die Zustimmung aller deutschen medizinischen Fakultäten. Diese war jeweils per Brief, Telegramm und Fernschreiben teils erst wenige Tage vor Prozessbeginn erfolgt, sodass die Zeit zur Bildung der Kommission denkbar knapp wurde. So hatte Oelemann am Ende mit dem Frankfurter Arzt Friedrich Jensen rasch noch einen persönlichen Freund in die Kommission gebeten. Alle sechs sollen sie nun die Erwartungen der deutschen Standesvertreter und der medizinischen Fakultäten erfüllen, die in Nürnberg zur Verhandlung stehenden Ärzteverbrechen publizistisch "einer äußerst beschränkten nationalsozialistischen Clique" zuzurechnen und damit das Gros der deutschen Ärzteschaft möglichst von jeglicher NS-Schuld reinzuwaschen. Mitscherlich ist der Kommission vorausgeeilt, Jensen und Koch werden vor Ort dazu stoßen. Die anderen sitzen im ungeheizten Eisenbahnabteil, eingeklemmt zwischen Obdachlosen und frisch Entnazifizierten, Kriegsheimkehrern und Witwen, Hamsterern und Schwarzmarktp
Schlagzeile
Ein Leben im Zeichen der Menschlichkeit