Beschreibung
Geschichte wird nicht nur von Historikern geschrieben. Vielmehr konkurrieren diese gerade beim Thema Nationalsozialismus mit zahlreichen anderen Deutungsinstanzen, die Vorstellungen von der Vergangenheit prägen. Dazu gehören Zeitungs-, Radio- und Fernsehjournalisten, Verleger und Lektoren, Museen und Gedenkstätten, Schriftsteller und Staatsanwälte, aber auch Tatbeteiligte und Opfer. Die Autorinnen und Autoren des Bandes zeigen, wie die 'Public History' das Bild des Nationalsozialismus in den verschiedenen Phasen der Bundesrepublik thematisierte und in welchen Beziehungen sie zur universitären Zeitgeschichtsforschung stand. Deutlich wird, dass öffentliche Geschichtsschreibung nicht einfach die akademische popularisierte, sondern auch eigene Anstöße gab.
Autorenportrait
Frank Bösch ist Professor für Fachjournalistik Geschichte am Historischen Institut der Universität Gießen. Constantin Goschler ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bochum.
Leseprobe
Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History Frank Bösch/Constantin Goschler Nicht nur akademische Historikerinnen und Historiker schreiben Geschichte. Vielmehr beteiligen sich insbesondere an der Darstellung der jüngsten Vergangenheit und des Nationalsozialismus zahlreiche weitere Akteure und Institutionen. Dazu zählen etwa Journalisten, Publizisten und Verleger, Schriftsteller und Zeitzeugen, das Fernsehen, der Rundfunk und Spielfilme sowie Gedenkstätten, Museen und Staatsanwälte, die für Prozesse historische Akten untersuchten. In Anlehnung an Pierre Bourdieu ließe sich formulieren, dass sie sich alle in einem "zeithistorischen Feld" bewegen, in dem viele Spieler um Deutungen, Reputation und angemessene Regeln ringen. Dabei grenzen sie sich nicht nur gegenseitig aus, sondern spielen sich gelegentlich auch Bälle zu, wovon sie wechselseitig profitieren. Akademische Geschichtsschreibung und öffentliche Geschichte des Nationalsozialismus stehen namentlich bei der Darstellung des Nationalsozialismus in einem engen Verhältnis. Die professionelle Identität der akademischen Zeitgeschichte lässt sich im Anschluss an Eric J. Engstrom durch wenigstens drei Elemente charakterisieren: erstens die Ausbildung als Historiker, zweitens die Arbeit als Historiker und drittens die disziplinäre Selbstreflexion. Der Übergang zur öffentlichen Geschichte erfolgt somit oftmals auch in personeller Hinsicht nahtlos, denn akademisch ausgebildete Historiker verbleiben in ihrer großen Mehrheit nicht in der Forschung. Die amerikanische Public History-Bewegung entstand so gerade auch aus dem Bemühen heraus, die im Gefolge der Hochschulexpansion der 1970er Jahre entstandene Beschäftigungskrise für ausgebildete Historiker durch die Erschließung neuer außerakademischer Berufsfelder jenseits von Universität und Schule aufzufangen. Public History beziehungsweise öffentliche Geschichte lässt sich inhaltlich und methodisch aus unterschiedlicher Perspektive betrachten. Zwei Lesarten dominieren häufig. Einerseits wurde und wird sie vielfach als eine popularisierte Form der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung verstanden. Im Sinne eines Top-Down-Modells erscheint sie demnach als eine vereinfachte Form der wissenschaftlichen Erkenntnis, die akademisch etablierte Historiker zuvor entwickelt haben. Andererseits fassen Historiker die öffentliche Geschichte summarisch als Erinnerungskultur und zitierten einzelne ihrer Ausdrucksformen als zeittypischen Diskurs und kollektive Wahrnehmungen der Vergangenheit. Als Maßstab bei der Bewertung solcher Public History dient jeweils der gegenwärtige wissenschaftliche Erkenntnisstand, sodass für jedes vergangene Jahrzehnt die Defizite der damaligen öffentlichen Auseinandersetzung aufgeführt wurden. Auch hier schreiben sich die professionellen Historiker also prinzipiell eine autoritative Position zu, und so mündet das hier beschriebene Verhältnis oftmals in die nur teilweise ironisch gemeinte Formulierung eines Kampfes zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen. Das vorliegende Buch wählt einen etwas anderen Zugang, um die öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu rekonstruieren, und schlägt damit auch eine alternative Definition von Public History vor. Erstens vermeidet es, die nicht-akademischen Geschichtsdarstellungen von vornherein als mediale Aufbereitung und Verbreitung akademischer Wissensbestände zu fassen, sondern fragt stattdessen nach deren originärem Beitrag zur Rekonstruktion der Vergangenheit. Damit wird das in diesem Bereich bislang vorherrschende diffusionistische Verständnis von Wissenschaftspopularisierung durch ein interaktionistisches ersetzt. Insofern geht das Buch, im Unterschied zu ähnlich gelagerten Arbeiten zur Wissensgeschichte, nicht von den akademischen Forschungen aus, sondern von den nicht-akademischen Darstellungen. Geprüft wird somit, inwieweit jenseits der Geschichtswissenschaft Themen, Quellen und Zugänge entstanden sind, die entweder eigenständig oder in Interaktionen mit Universitätshistorikern entwickelt wurden und mitunter sogar Impulse für die Wissenschaft offerierten. Insbesondere die Auseinandersetzung mit heute relevanten wissenschaftlichen Forschungsfeldern wie etwa den NS-Verbrechen scheint sich, so die Hypothese, zunächst stärker außerhalb von Universitäten und historischen Forschungseinrichtungen etabliert zu haben. Dabei zeichnet sich ab, dass Journalisten, Staatsanwälte oder Gedenkstätten häufig recht eigenständig recherchierten und Darstellungen entwickelten. Mitunter zogen sie bei ihren Recherchen akademisch etablierte Historiker heran und förderten so die Auseinandersetzung mit bis dato wissenschaftlich noch wenig vertrauten Feldern - etwa im Zuge der NS-Prozesse und der Ermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle, bei frühen Fernsehdokumentationen oder bei der Aufarbeitung von NS-Organisationen durch Journalisten. Zweitens wählt das Buch einen anderen Zugang, um die Erinnerungskultur zu fassen. Es löst deren Wandel nicht allein in jeweils dominante Diskursmuster auf, sondern spürt den Techniken und Ergebnisbildungen der verschiedenen Akteure der Geschichtsproduktion nach. In den Vordergrund rückt damit die Frage, wer auf welche Weise was rekonstruierte. Dies erscheint sinnvoll, weil jeweils unterschiedliche Interessen und Darstellungsmodi die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit prägten. Als Maßstab zur Einordnung der damaligen Befunde wird nicht allein der heutige Forschungsstand herangezogen, sondern ebenso der der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft. Denn erst diese Gegenüberstellung erlaubt eine Einschätzung über die Bedeutung der jeweiligen Geschichtskonstruktionen. Ein Grundproblem ist die Frage, inwieweit man die Geschichtswissenschaft von sonstigen Akteuren bei der Rekonstruktion der Vergangenheit trennen kann. Mit Blick auf die Ausbildung, Veröffentlichungsform oder öffentliche Wahrnehmung erscheinen die Grenzen auf den ersten Blick mitunter fließend, sind aber deutlich auszumachen. Autoren wichtiger zeithistorischer Werke, wie Joachim Fest oder Sebastian Haffner, galten öffentlich vielfach als Historiker, waren aber von der Ausbildung her Juristen und vom Beruf her Journalisten. Andere Repräsentanten der Public History, wie Theo Sommer von der ZEIT, Albert Wucher von der Süddeutschen Zeitung oder Guido Knopp vom ZDF, hatten zwar zu Themen der neuesten Geschichte promoviert, dann aber gleich den Weg in den Journalismus eingeschlagen. Ihre Abgrenzung von der Geschichtswissenschaft, die in unserem Buch vorgenommen wird, bezieht sich damit weder auf den formalen Qualifikationsweg noch normativ auf die Qualität ihrer Arbeiten, sondern auf das jeweilige Berufsfeld, aus dem heraus sie den Nationalsozialismus darstellten. "Jenseits der Geschichtswissenschaft" heißt zunächst nur, dass sich die Akteure in keinem akademischen Anstellungsverhältnis befanden, und beinhaltet keine vorauseilende Abwertung ihrer Geschichtsprodukte. Unter Public History verstehen wir somit zunächst jede Form von öffentlicher Geschichtsdarstellung, die außerhalb von wissenschaftlichen Intuitionen, Versammlungen oder Publikationen aufgebracht wird. Die Public History ist folglich nicht allein mit der medialen Geschichtsdarstellung gleichzusetzen, sondern zeigt sich ebenso in anderen öffentlich zugänglichen Räumen (Museen, Gedenkstätten, Gerichtssäle u.a.). Historiker von Universitäten oder Forschungsinstituten partizipieren durchaus an dieser Public History, stehen hier jedoch nicht im Vordergrund, da sich der Band der öffentlichen Geschichtsdarstellung jenseits der Geschichtswissenschaft zuwendet. Auffällig ist, dass die Grenzen zwischen den akademisch etablierten Historikern und anderen Akteuren im zeithistorischen Feld in Deutschland besonders scharf gezogen waren und sind. Festere Kooperationen blieben selten, ebenso Rezensionen über die historischen Bücher der Journalisten in historischen Fachzeitschriften. Joachim Fests Hitler-Biographie schaffte es zwar, i...
Inhalt
Inhalt Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History Frank Bösch/Constantin Goschler "Namen sind Nachrichten": Journalismus und NS-Täterforschung in der frühen Bundesrepublik Deutschland Jan Erik Schulte Der Nationalsozialismus im Dokumentarfilm: Geschichtsschreibung im Fernsehen, 1950-1990 Frank Bösch NS-Verbrechen im Radio: Axel Eggebrechts Berichte über den Bergen-Belsen-Prozess 1945 und den Auschwitz-Prozess 1963-1965 Inge Marszolek Die Stunde der Memoiren: Militärische Eliten als Stichwortgeber Oliver von Wrochem Erinnerte Geschichte: Stimmen der Opfer Constantin Goschler Die Justiz als zeithistorische Forschungsstelle Annette Weinke Spurensuche: NS-Gedenkstätten als Orte der Zeitgeschichte Habbo Knoch Zeitgeschichte gestalten: Verleger und Lektoren Olaf Blaschke Zwischen Heimsuchung und Heimkehr: Gegenwartsromane und Zeitgeschichte des Nationalsozialismus Erhard Schütz Autorinnen und Autoren Personenregister
Schlagzeile
Zeitgeschichte als öffentliche Geschichte