Beschreibung
Odysseus, der Herrliche, der Listenreiche, der Held des Trojanischen Kriegs, kehrt nach zwanzigjähriger Irrfahrt heim nach Ithaka. Doch niemand hat ihn vermisst. Auch Penelope nicht. Stattdessen hat sie mit ihren Freiern ein beneidenswert selbstbestimmtes Dasein geführt. Nun machen ihr Odysseus' Identitätskrise, sein Missmut und seine Eifersucht das Leben zur Hölle. Auch seinen Söhnen ist er unheimlich mit seiner übermächtigen Vergangenheit und all der Grausamkeit, die man ihm nachsagt. Kurz, das Familienleben ist keine Freude mehr - und bald findet sich der entzauberte Held allein in seinem Haus in Ithaka. Sándor Márai bürstet die antike Mythologie gegen den Strich und schenkt uns nicht nur einen Roman von messerscharfer Ironie, sondern präsentiert eine neue Facette seiner Erzählkunst.
Leseprobe
Vorgesang Rechts am Arm das Seil gelockert. Er streckte sich. Aus der Nähe kam der Gesang. Er horchte. Jetzt merkte er: Sie sangen da, die Sirenen. Heiser, lüstern und verführerisch. Seine Gefährten schliefen. Wachs klebte in ihren Ohren. Sie träumten. Dass sie heimkehrten, und dass die Jungen oder die Alten Rache nähmen! Er stöhnte auf, ohnmächtig. Na, wo bist du jetzt, Pallas Athene? Wasser klatschte ans Floß, das graue Meer sperrte den schrecklichen Schlund auf. Das Lied verklang in der Ferne. Die Segel kreischten laut. Plötzlich kam die Angst. Arme und Beine gaben nach - Er stöhnte auf. Und fürchtete, er käme heim nach Ithaka. Erster Gesang Penelope I Mein seliger Mann war ein ruheloser Mensch. Am liebsten war er auf Reisen. Doch selbst wenn er nicht unterwegs war, wenn er sich bei uns in Ithaka aufhielt, wenn er in meinem Bett lag und mich in den Armen hielt: Immer hatte ich das Gefühl, an Deck eines Schiffes zu sein oder auf einem langsam schwimmenden Floß. Das lässt sich schwer erklären. Wer mit ihm lebte, begab sich ebenfalls auf eine Reise, langsam und ausdauernd. Es war schwer, sich ihm zu nähern, weil er ständig dabei war, sich zu entfernen. An seiner Haut haftete der Geruch des Meeres. Über das, was uns widerfahren ist, über die Geschichte unserer Familie, sind in der Welt leider schon zu viele Worte verloren worden. In letzter Zeit wurde ich mehrfach gebeten, die Wahrheit zu sagen und meine Erinnerungen niederzuschreiben. All diese Bitten habe ich abgeschlagen. Nicht nur, weil ich derartige Eröffnungen für unter meiner Würde halte. Ich habe die Neugierigen eher deswegen abgewiesen, weil zu unserer Zeit - ich denke hier an die Zeit, als ich in der Gesellschaft meines Mannes lebte - das Schreiben noch eine außerordentlich gewöhnliche, niedere Beschäftigung war. Damals, als mein Mann und ich noch Menschen waren - genauer gesagt, als wir für kurze Zeit wieder einmal Menschen waren -, schrieben die vornehmeren Leute nicht. Wenn sie der Welt etwas zu sagen hatten, griffen sie zur Leier und sangen. Die Dichter und alle, die sich mit Worten ausdrücken konnten, verachteten das Schreiben, diese Sklavenarbeit, zutiefst. Sie schritten vielmehr im Wind dahin, die Leier in der Hand, und sangen dazu. Mein Mann mochte dieses fünfsaitige Instrument, und wir hielten in unserem Haus immer einen Sänger, der die Erlebnisse der Achäer in metrischen Versen vortrug. Dieser Mann wurde gesondert gespeist, und sogar Wein mischte man ihm in den silbernen Becher, dass er Lust zum Singen bekomme. Mein Mann förderte die Literatur. Ich erinnere mich noch an einen dieser Sänger, der längere Zeit in unserem Haus verweilte und sich dann später, als sich alles so schmerzlich und aufregend veränderte, auf den Weg machte und überall auf den Inseln seine Verse vortrug. Dieser Mann war blind. Noch heute sehe ich manchmal undeutlich sein Gesicht vor mir. Dünn war er und alt, und seine blinden Augen vermochten bisweilen den Eindruck zu erwecken, als sähe er tatsächlich etwas. Später habe ich mich viel über ihn geärgert. Die Geschichte, die er vortrug, war ungenau. Er sang alles Mögliche, so gut es ein Blinder eben kann, der die Wahrheit nur ahnt und sie nicht weiß. Die Wahrheit weiß nur ich, die ich im Bett meines Mannes gelegen und dann zwanzig Jahre lang auf ihn gewartet habe. Aber das Schreiben will ich nicht mehr lernen. Dafür bin ich zu alt, selbst wenn ich unsterblich, also ewig jung bin. Lieber erzähle ich, was ich weiß. Ich erzähle es langsam, so wie er manchmal sprach, wenn er sich - im Winter - mit uns an den dreibeinigen eisernen Glutkorb setzte und zu erzählen begann. Manchmal höre ich noch seine Stimme. Sie klang wie das Rauschen des Meeres. II Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Jetzt, da die Erinnerungen auf mich einstürmen, spüre ich ein Herzklopfen, als wäre all das, was ich zu sagen habe, zu viel, unfassbar, unendlich wie die See. Denn immer, wenn ich an meinen seligen Mann denke, erinnert m