Autorenportrait
Johan Theorin, geboren 1963 in Göteborg, gelang schon mit seinem ersten Kriminalroman »Öland«, ausgezeichnet als bestes Krimidebüt des Jahres, ein großer internationaler Erfolg. Als Herbst-Teil seines geplanten Jahreszeiten-Quartetts wurde es in vierzehn Sprachen übersetzt. »Nebelsturm«, dessen Filmoption bereits verkauft ist, spielt im rauen öländischen Winter. Das Buch erhielt in Schweden den Preis für den Besten Kriminalroman des Jahres und wurde mit dem Dagger Award für den besten internationalen Kriminalroman prämiert. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch »So bitterkalt«. Johan Theorin ist ein leiser Mensch. Er kann lange Strecken zurücklegen, ohne aufzugeben: 15 Jahre hat er geschrieben, immer wieder Absagen von Verlagen erhalten und weitergeschrieben. Er trennte sich von seiner Frau, zog seine Tochter allein groß und schlug sich als Journalist mehr oder minder erfolgreich durchs Leben, als unerwartet der große Erfolg an seine Tür klopfte. »Öland«, das erste Werk seines geplanten Quartetts über die Insel seiner Kindheit, ist inzwischen in 13 Sprachen übersetzt worden und wurde ebenso wie »Nebelsturm« mit dem Dagger-Award ausgezeichnet, dem »Oscar« der Kriminalliteratur. »Blutstein«, der bisher letzte und dritte Teil, ist auf dem besten Wege, ähnlich erfolgreich zu werden. Theorin ist ein Langstreckenläufer, einer, der kein Gramm zu viel mit sich rumträgt. Mehrmals in der Woche geht er laufen, auch wenn es bitterkalt ist in Göteborg, dem Zuhause des Autors. »Es bringt nichts, auf die Inspiration zu warten«, sagt der studierte Journalist, »du musst dich hinsetzen und einfach schreiben.« Wir treffen uns in seiner Schreibklause, einem winzigen Zimmer inmitten der Altstadt von Göteborg. Ein paar hundert Euro zahlt er für den ca. 10 Quadratmeter großen Raum, die anderen Zimmer in der Kreativ-WG sind alle größer, dafür hat er einen alten Kachelofen und einen Blick auf die Altstadt. Theorin legt keinen Wert auf Statussymbole. »Wo ich schreibe, ist mir eigentlich egal, die Geschichten sind in meinem Kopf. Wenn ich nach Öland will, dann schließe ich die Augen und bin da«, erzählt der Schwede. »Und es ist gut, ein wenig Abstand zu haben, sonst ist es wie im Wald, jede Idee ist ein Baum, aber nirgends ist ein Weg zu erkennen.« Vor Ort in Öland hätte Theorin einfach zu viele Impressionen. Fünfmal die Woche, immer von 10 bis 18 Uhr, kommt er in seine Klause und schreibt. Wenn es gut läuft, bis zu fünf Seiten am Tag, wenn es schlecht läuft, auch mal nur zwei. Theorin serviert in der Gemeinschaftsküche schwedisches Essen: Elchfrikadelle mit Kartoffeln, nicht selbst gekocht, aber typisch schwedisch. Wir reden über Filme, seine große Leidenschaft. Er hat sogar einen Kurs für kreatives Drehbuchschreiben besucht, um zu verstehen, wie sie funktionieren. Auf seinem Schreibtisch liegt eine schwarze Kladde neben seinem Laptop, jede Seite randvoll mit handgeschriebenen Notizen. Hier steht alles drin: das Ende des letzten Teils seiner Öland-Romane, die Charaktere, alles was ihm gerade einfällt. »Manchmal wache ich nachts auf, dann ist da was, das ich sofort aufschreiben muss. Deshalb liegt eine Kladde immer neben meinem Bett!« Er hat keinen Internetanschluss, nichts, was ihn vom Schreiben ablenken könnte. »Warum schreibst du über Verbrechen«, frage ich Theorin. »Eigentlich schreibe ich gar keine Kriminalromane, das Verbrechen ist nur ein Erzählstrang. Ich schreibe über menschliche Beziehungen«, antwortet er. »Warum gibt es in deinen Öland-Romanen keinen Kommissar?« - »Ich habe dafür Gerloff, der immer wieder auftaucht. Er ist ein eher stiller Beobachter als eine Hauptrolle. Ich möchte mich durch eine zu starke Figur nicht einschränken. Darum habe ich auch alle Orte auf Öland umbenannt. Ich kann so freier erzählen.« »Weißt du bereits am Anfang, wie sich deine Charaktere entwickeln?« - »Nein, das wäre langweilig. Sie entwickeln sich und ich mich mit ihnen. Die Charaktere müssen mit der Geschichte wachsen. Gerloff beispielsweise ist an me
Leseprobe
Aus der Dunkelheit glitt das Geisterschiff über das schwarze Wasser des Sundes und wich nichts und niemandem aus. Der Junge im Schlauchboot würde nicht ungeschoren davonkommen. Sein kleines Boot drohte bei der Kollision zu kentern, aber es gelang ihm in letzter Sekunde, sich an der stählernen Schiffswand festzuhalten und sein Boot zu vertäuen. Der Schiffskörper erhob sich über ihm. Er war ölverschmiert und rostig, als würde das Schiff seit Jahrzehnten übers Meer fahren. An Deck war keine Menschenseele zu sehen, aber tief im Inneren des Schiffsrumpfes dröhnte ein Motor wie ein großes schlagendes Herz. Das Schlauchboot hatte ein Leck, und Wasser drang ein, der Junge hatte keine Wahl. Er reckte sich und kletterte über die Reling an Bord. Leise bewegte er sich über das dunkle Deck, es stank entsetzlich nach altem Fisch. Vorsichtig schlich er vorwärts, vorbei an einer verschlossenen Luke. Nur fünf oder sechs Meter weiter sah er den ersten Toten. Ein Matrose in einem fleckigen Overall, er lag auf dem Rücken und starrte in den Nachthimmel. Hinter ihm tauchten weitere Matrosen schwankend aus der Dunkelheit auf. Sterbend oder schon tot. Lebende Tote. Sie streckten ihm ihre Arme entgegen und flüsterten mit schwacher Stimme in einer fremden Sprache. Der Junge schrie und versuchte zu fliehen. So begann der letzte Sommer des 20. Jahrhunderts in dem kleinen Ort Stenvik. So begann die Geschichte von dem Geist, der die Stadt heimsuchte. Aber eigentlich begann alles vor siebzig Jahren, auf einem kleinen Friedhof im Inneren der Insel. Mit einem anderen jungen Mann, Gerlof Davidsson, der laute Klopfgeräusche aus einem Sarg hörte. SOMMER 1930 Gerlof Davidsson verließ die schwedische Volksschule im Alter von vierzehn Jahren und heuerte zwei Jahre später als Matrose an Bord eines Schiffes an. In der Zwischenzeit übernahm er Hilfsarbeiten überall auf Öland, wenn er nicht zu Hause auf dem Hof aushalf. Einige der Tätigkeiten waren gut, andere schlimmer. Nur eine nahm ein richtig schlechtes Ende: die Anstellung als Aushilfstotengräber auf dem Friedhof von Marnäs. Solange er lebte, würde sich Gerlof an seinen letzten Arbeitstag dort erinnern, als der Großbauer Edvard Kloss zweimal begraben werden musste. Auch später, als alter Mann, hatte Gerlof keine Erklärung für die Geschehnisse auf dem Friedhof. Er hatte immer gerne Spukgeschichten gehört, aber nie an sie geglaubt. Er glaubte auch nicht an die Rache aus dem Jenseits. Außerdem hatte Gerlof Worte wie Gespenster oder Geist immer mit Dunkelheit und Unglück in Verbindung gebracht. Und nicht mit Sommer und Sonne. Es war an einem sonnigen Sonntag Mitte Juni, Gerlof hatte das große Fahrrad seines Vaters ausgeliehen und war damit zum Friedhof geradelt. Endlich war er groß genug dafür, im letzten Jahr war er ordentlich gewachsen und hatte seinen hochgewachsenen Vater beinahe eingeholt. Gerlof senkte den Kopf und trat in die Pedale. Er ließ die kleine Ortschaft am Meer hinter sich und fuhr nach Osten, ins Inselinnere. Entlang des Weges wuchsen Blauer Heinrich und kleine leuchtende Sternblumen. Dahinter erstreckten sich Wacholder- und Haselnussbüsche, und weiter hinten am Horizont waren die Flügel einiger Windmühlen zu sehen. Auf den Wiesen grasten Kühe und blökende Schafe. Zweimal musste er vom Fahrrad springen und die Gatter von Zäunen, die das Vieh zurückhalten sollten, öffnen und wieder schließen. Es war eine offene und weite Landschaft, fast ohne Baumbestand, und wenn die Schwalben an seinem Fahrrad vorbeisausten und senkrecht in den Himmel stießen, dann wäre Gerlof am liebsten vom Weg abgefahren und hätte sich dem Wind und der Freiheit hingegeben. Aber dann dachte er an die Arbeit, die auf ihn wartete, und seine Ausgelassenheit verschwand. Edvard Kloss war zweiundsechzig Jahre alt, als er letzte Woche starb, ein robuster Großbauer aus Nordöland. Kloss galt als wohlhabend, er verfügte zwar über kein großes Vermögen, besaß aber viel Land entlang der Küste, südlich von Gerlofs Heimatst